„In der Gegenwart bauen wir die Zukunft!“ – In diesem Aufruf von Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde von München und Oberbayern, liegen Gestaltungsmöglichkeit und Verantwortung sehr eng beieinander. Der Aufruf erging an die Schülerinnen und Schüler der 9. bis 11. Jahrgangsstufe, die sich am 11. Mai in der Aula versammelt hatten. Zum zweiten Mal beehrte die Präsidentin das Camerloher mit ihrem Besuch, worüber die ganze Schulgemeinschaft ausgesprochen dankbar war.

Den Auftakt zu dem Projekttag zur Antisemitismusprävention stellte für alle Neuntklässler ein Workshop dar, den die beiden Regionalbeauftragten für Demokratie und Toleranz, Silke Hatzinger und Thomas Fahrner, leiteten. Die Regionalbeauftragten sind Ansprechpartner für verhaltensorientierte Extremismusprävention und anlassbezogene Intervention. Im Workshop ging es zentral um antisemitische Hetze im Netz: Kritisch und aufgeschlossen setzten sich die Schülerinnen und Schüler mit Memes und Stickern auseinander, die im Netz kursieren und die nicht nur extremistische, sondern teilweise auch strafbare Inhalte aufweisen. Das Gefährdungspotenzial dieser Contents liegt darin, dass sie Jugendliche ansprechen, da sie sich popkultureller Referenzen bedienen: So wird aus dem Slogan „Drop the bass“, der vor dem Hintergrund tanzender und Party machender junger Menschen zu lesen ist, ein „Drop the gas“ mit Hitler als DJ und einem mit einem Hakenkreuz versehenen Einhorn im Hintergrund. Den Jugendlichen im Workshop war schnell klar, dass das Veröffentlichen oder Weiterleiten eines solchen Stickers eine Straftat ist. Aber nicht immer ist die Sache so eindeutig: Mit vordergründigem Humor werden in der Meme- und Stickerkultur nicht nur Jüdinnen und Juden beleidigt und herabgesetzt, das Netz ist voll von rassistischen, sexistischen, antiziganistischen oder andere Gruppierungen treffende Diskriminierungen. Die Jugendlichen sind sich einig: Egal, wen eine Beleidigung trifft und ob der Inhalt eine Straftat ist oder nicht, es gilt sich einzusetzen gegen jede Form von Hetze und Gewalt im Netz zum Schutz von Betroffenen und für ein tolerantes und friedliches Miteinander.

Den zweiten Teil des Projekttages leitete Frau Bliese mit ihren Erinnerungen zu ihrer Freundin Greta ein, die einer jüdischen Familie in Wien entstammte, die Shoah überlebte, dann bis zu ihrem Tod in Jerusalem lebte und unserer Schulleiterin den Alltag in Israel nahebrachte. Regionalbischöfin Breit-Keßler, eine der beiden Paten des Camerlohers als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, stellte dar, dass erschreckende 20% der deutschen Bevölkerung mindestens latent antisemitisch seien. Anschließend präsentierte die Gruppe Takeoff ihr preisgekröntes Projekt „Klare Kante gegen Antisemitismus“, in dem sie antisemitische Memes und Videos untersuchte und ein Interview mit Dr. Franck, dem Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Justiz, führte. Dieser legte in seinem Vortrag dar, dass antisemitische Straftaten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (14 bis 23 Jahre) in den letzten Jahren besonders stark gestiegen seien, z. B. durch das Teilen von Memes in Chatgruppen. Die bayerische Justiz verfolge diese Straftaten konsequent, sodass Jugendliche zu Strafen von Sozialstunden bis zum Regelarrest sowie der Einziehung des privaten Handys verurteilt würden. Zugleich würden Informationen an jüdische Haushalte verschickt, damit diese motiviert würden, Straftaten bei der Polizei anzuzeigen. An die Jugendlichen richtete er den Appell „Misch dich ein!“, denn: „Es ist nicht uncool, sich für Minderheiten einzusetzen.“

Nach diesem „Vorprogramm“ erhielt Charlotte Knobloch das Wort. Die Neunzigjährige sprach zunächst von ihrem Vater, einem bis 1933 angesehenen Anwalt, danach zum „Rechtsvertreter der Juden“ degradiert, der als deutscher Patriot erleben musste, dass sein Land ihn verließ. Sie selbst erlebte den Judenhass zuerst mit vier Jahren, als eine Nachbarin dafür sorgte, dass die Nachbarskinder nicht mehr mit dem „Judenkind“ spielten. Beim Novemberpogrom 1938 führte der Vater die Familie zu Freunden zu Fuß nach Gauting, um einer Verhaftung durch die SA zu entgehen. Nachdem die Großmutter 1942 deportiert worden war – sie wurde 1944 in Theresienstadt ermordet –, brachte der Vater Charlotte zur ehemaligen Haushälterin des Onkels nach Franken. Dort wuchs Charlotte in der Rolle eines katholischen Landmädchens auf, indem die Frau sie als ihr uneheliches Kind ausgab und dadurch viele gesellschaftliche Schmähungen auf sich lud. Nach der Befreiung baute ihr Vater, der als Zwangsarbeiter überlebt hatte, die jüdische Gemeinde in München wieder auf, sie selbst blieb auch in Deutschland, mit wachsendem Vertrauen in die Deutschen: „Die Koffer blieben gepackt, zuerst kamen sie hinter die Tür, dann auf den Schrank, schließlich auf den Dachboden.“

Heute aber fragt sich Frau Knobloch, ob sie die Koffer doch wieder griffbereit halten müsse, und mit ihr auch viele jungen Jüdinnen und Juden. Denn der Judenhass im Internet übertrage sich auf die Straße, zeige sich politisch bei der AfD und künstlerisch z.B. auf der documenta. Wer sich traut, in der Öffentlichkeit eine Kippa oder eine Davidsternkette zu tragen, riskiere angegriffen zu werden. Knobloch wörtlich: „Ich hätte nie geglaubt nach der Befreiung 1945, dass wir in Deutschland noch einmal über Antisemitismus und Rassismus reden müssen. Aber sie sind wieder da.“ Dies sei ein Problem nicht nur für die jüdische Gemeinschaft, sondern für die gesamte Gesellschaft, denn Judenhass sei Nährboden für Verschwörungstheorien und Demokratiefeindlichkeit. Antisemitismus diene dabei häufig als „Einstiegsdroge“ und sei „Kitt für fast alle anderen Formen der Ausgrenzung“.  Daher rief Frau Knobloch abschließend die Zuhörenden auf, zwar stolz auf ihr Land zu sein, aber auch: „Lasst euch von niemandem sagen, wen ihr zu lieben oder wen ihr zu hassen habt!“

Die Schülerinnen und Schüler hatten nach dieser die Herzen berührenden Rede die Gelegenheit, Frau Knobloch Fragen zu Details ihres Lebens zu stellen, u.a. wie sie es ausgehalten hat, weiter im Land der Täter zu leben, obwohl diese entweder desinteressiert oder heuchlerisch auf die NS-Verbrechen reagierten. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde beweist mit ihrem bis heute andauernden Engagement, wie sehr Einmischen wichtig für den Kampf gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und insbesondere gegen Antisemitismus ist. Die Würdigung dieser Lebensleistung und die Strahlkraft der Vorbildstellung von Charlotte Knobloch kommen in Schülerkommentaren zum Ausdruck: „Ich bin sehr bewegt von Frau Knoblochs Erzählungen zu ihrem Leben.“, „Mich beeindruckt total, wie Frau Knobloch ihr Leben in Deutschland nach den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges gestaltet hat.“ oder „Frau Knobloch hat uns jungen Menschen so viel zu sagen und ich bin so glücklich, dass ich ihr zuhören durfte“.

Würdig umrahmt wurde das zweistündige Programm von musikalischen Beiträgen durch Rosalie Bauer und Viola Hieber (9b) sowie den Frauenchor des Vokalensembles der Q11.

 

Andreas Decker