Das lang auf beiden Seiten des Rheins ersehnte Pilotprojekt startete Ende September mit dem Besuch der deutschen Schüler der Q 11 des Camerloher-Gymnasiums in Lyon. Der Gegenbesuch der französischen Austauschschüler findet Mitte Oktober in Freising statt. Begleitet wurde die deutsche Gruppe des Camerloher-Gymnasiums von den beiden Französisch-Lehrerinnen Andrea Bliese und Silvia Betz.

Kaum eine Gruppe Jugendlicher war wahrscheinlich je so nervös wie wir, als wir kaum eine Stunde nach Ankunft in Lyon das „Lycée de Martiniere Montplaisir“ betraten, in halb freudiger, halb verängstigter Erwartung des ersten Zusammentreffens mit unseren Austauschschülern.

Ein Punkt, der uns da ganz besonders Sorgen bereitete: „la bise“, die typische französische Art der Begrüßung. Sie besteht aus einem Küsschen auf die linke und einem auf die rechte Wange, wobei eine unausgesprochene Faustregel zu lauten scheint, dass sich dabei die Wangen beider Beteiligter berühren müssen. Und tatsächlich war uns, die wir einen festen Händedruck gewohnt sind, „la bise“ anfangs ein wenig zu persönlich und vertraut. Jedoch gewöhnte man sich schnell daran und jetzt, zurück in Deutschland, muss ich gestehen, dass ich diese herzliche Geste fast ein wenig vermisse.

Anschließend zu einem kurzen Spaziergang durch Lyons Mitte nahmen uns unsere Austauschschüler mit nach Hause, wo wir von den Familien mit derselben Freundlichkeit empfangen wurden. Gleich zu Beginn nämlich sollten wir das Wochenende weitestgehend auf uns allein gestellt mit unseren Gastfamilien verbringen, was sich als eine sehr gute Entscheidung herausstellte. Denn dadurch wurden unsere Französischkünste, die nach nur einem Jahr Unterricht verständlicherweise noch nicht sehr ausgeprägt sein konnten, herausgefordert und somit gefördert, sodass wir kaum zwei Tage später schon wesentlich mehr verstanden als noch bei unserer Ankunft: Ein kleiner Schritt für einen Franzosen, doch ein großer Schritt für die Französischklasse der Q11 am Camerloher-Gymnasium Freising.

 

Was uns überraschte, war das Essen. Natürlich ist Frankreich besonders bekannt für seine Croissants und auch die Version mit Schokolade, genannt „pain au chocolat“, war in den Stunden bereits mehrmals zu Sprache gekommen und gepriesen worden. Doch das war noch nicht alles.

Das Frühstück wurde mit so wenig Besteck wie möglich bestritten; es gab ein kollektives Messer für die Butter und die Marmelade wurde mit dem Löffel aufgetragen. Manche von uns aßen sogar ohne Teller. Das war uns zunächst etwas seltsam erschienen, doch schlussfolgerten wir bald, dass das eine Art war, sich die Arbeit des Geschirrspülens zu sparen und war insofern sehr vorausschauend.

Tagsüber wurden wir mit einer großzügigen Brotzeit ausgestattet, die da bestand aus einer kleinen Tüte Chips, bis zu zwei Sandwiches, einem Stück Obst, einem kleinen Gebäck, eventuell Tomaten, und Müsliriegeln, wobei eine Mitschülerin davon nicht nur einen, sondern gleich die gesamte noch verschlossene Packung zur Verpflegung erhielt. Diese enorme Menge an Essen war nur zu bewältigen, indem wir mehrmals zu einer Pause anhielten und alles untereinander aufteilten, und am Ende des ersten Tages kamen wir allesamt nach Hause mit den Worten: „C'est trop!“ (auf Deutsch: „Es ist zu viel!“)

Abends pflegte man zunächst eine warme Hauptmahlzeit zu essen, dazu Salat und Baguette, als Dessert gab es Jogurt oder Apfelmus (ein Blick in den Kühlschrank zeigt, dass er voll ist von lauter solch kleinen Becherchen), optional auch Kuchen, danach erwarteten einen dann Obst und Käse. Ich wage zu behaupten, dass das die Hauptmahlzeit des Tages ist.

Was unbedingt erwähnt werden muss, ist eine Spezialität von Lyon, die „Brioche à la praline“, das wir in der Boulangerie du Palais erstanden. Ein fluffiges, himmlisches Gebäck, umkrustet von roter Zuckermasse mit Mandeln.

Doch die Stadt ist noch für anderes als seine köstlich süßen Gebäcke bekannt. Die Croix Rousse beispielsweise, die sich auf dem gleichnamigen Hügel befindet, war früher eines von Lyons Seidenwebervierteln, die sie zu einem führenden Seidenexporteur gemacht haben (wie wir durch eine Führung erfuhren) und zu dessen Füßen die Seidenhändler ihre Geschäfte hatten. Der Platz wurde weniger, als sich immer mehr Seidenmanufakturen ansiedelten und schließlich entstanden zwischen ihnen sogenannte „Traboules“, enge Passagen, um die Seide ungehindert von Einem zum Anderen zu transportieren. Wir besichtigten passend dazu das Geschäft „Giles Hévair“, ein Fliegen- & Westenmacher und Seidenverkäufer seit 1898, bei dem wir uns auch selbst am Fliegenbinden versuchen durften (und mehr oder weniger kläglich scheiterten).

An einem Dienstag besichtigten wir zusammen mit unseren Austauschpartnern „La Maison des enfants d´Izieu“, ein Haus, in dem während des zweiten Weltkriegs geflüchtete Kinder vorübergehend untergebracht wurden, bis 1944 Soldaten des NS-Regimes unter Klaus Barbie eine Razzia dort durchführten und über vierzig Kinder deportieren ließen. Heute ist es eine Gedenkstätte, an der immer noch das Echo von den Kindern nachklingt, die einst dort lebten.

Wir erhielten zunächst eine Führung mit Dolmetscher im angrenzenden Museum und konnten dann auch noch das Haus selbst besichtigen, in dem die Fotografien der ermordeten Kinder aushängen. Es war ein ganz anderes Gefühl als damals, als wir das Konzentrationslager in Dachau besuchten, wo die Grausamkeiten Ausmaße hatten, dass man sie nicht begreifen konnte. Das Haus der Kinder von Izieu jedoch war nicht nur ein negativ belasteter Ort oder ein Weg, auf dem zumindest über sechzig Kinder gerettet wurden,  sondern allem voran ein Ort, an dem Kinder so normal gelebt haben, wie es ihnen unter den Umständen möglich war. Man kann die Augen schließen und sieht förmlich die Kinder vor sich, wie sie im Garten hinter dem Haus gespielt haben, in dem wir später picknickten, und man fragt sich, ob auf den Treppenstufen, auf denen man gerade sitzt, damals nicht auch zwei von ihnen gesessen sind und sich gegenseitig zum Lachen gebracht oder getröstet haben.

Das wirklich Traurige an dem Haus von Izieu ist nicht das Haus selbst, sondern wie es einem bewusst macht, wie viel Leben im zweiten Weltkrieg sinnlos verloren gegangen ist, wie viele Persönlichkeiten ohne Grund ausgelöscht wurden. Man bekommt eine greifbare Vorstellung davon, dass die Toten mehr waren als nur ihre Namen, Fotos und Lebensdaten, nämlich echte, lebende, atmende Menschen mit eigenen Gefühlen und Gedanken. Anschließend picknickten wir und saßen alle zusammen in einem großen Kreis, bei Sonnenschein und reichlicher Versorgung. Satt und glücklich und noch ein wenig nachdenklich machten wir uns an die Weiterfahrt zum See von Annecy, diesmal ohne zu schlafen, dafür aber mit Musik bei der wir Alle mitsingen konnten. Dort nahmen wir uns jeweils zu viert oder fünft ein Tretboot und fuhren auf den See hinaus. Der Blick war gigantisch. Klares, strahlend blaues Wasser und ringsum nichts als Berge.

Des Weiteren unternahmen wir in Lyon in den kommenden Tagen eine Schiffahrt auf der Rhône, sangen Lieder aus dem Film „Les Choristes“ im Théâtre Romain, besichtigten die Basilique de Fourvière und die Cathédrale Saint Jean und erhielten eine Führung in der Opéra de Lyon, deren Hauptsaal nicht von Pfeilern getragen wird, sondern an mehreren Säulen hängt und während einer Aufführung so sehr schwanken kann, dass er bis zu zehn Zentimeter von der Normalposition abweicht.

Den Weg zur Schule oder den gemeinsamen Treffen am Nachmittag traten einige von uns mit dem Fahrrad an, ein Erlebnis, dank dem ich nun um einige Beinahe-Herzinfarkte reicher bin. In Lyon haben offenbar Fußgänger und Fahrradfahrer die Vormacht. Das Anhalten an roten Ampeln scheint mehr optional als verpflichtend, beim Fahren wechselt man munter die Spur, z.B. fuhren wir einmal links im Kreisverkehr – weit mehr als gewöhnungsbedürftig. Dafür ist die Stadt ganz hervorragend und fortschrittlich mit Fahrradwegen ausgestattet, was einem ein wenig von der Orientierung und Sicherheit zurückgibt.

Am letzten Tag fanden wir uns wieder am Flughafen ein, der nach dem Luftfahrtpionier und Schriftsteller Saint-Exupéry („Der kleine Prinz“, 1943) benannt ist, um von dort aus die Heimreise anzutreten. Begleitet wurden wir von vielen Franzosen, die wegen des Oktoberfests auf dem Weg nach München waren. Mit unseren nun verbesserten Fähigkeiten des Französischen waren wir nun sogar in der Lage, uns ein wenig mit ihnen zu unterhalten und ihnen das wichtigste Wort beizubringen, dass man für das bayerische Bierzelt brauchen kann: Prost!

Und so freuen wir, wenn wir unsere neuen französischen Freunde bei uns mit einem herzlich-bayerischen „Prost“ begrüßen dürfen. Helene Schaller (Q11)