35 Jahre nach der Wiedervereinigung scheint es um die Deutsche Einheit nicht gut bestellt zu sein: Ostdeutsche sind weiterhin unterrepräsentiert in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Chefetagen, weite Teile der ostdeutschen Bevölkerung zeigen sich mit den demokratischen Parteien unzufrieden. Manche Beobachter führen das auch auf die vierzig Jahre DDR und die dadurch kürzere demokratische Tradition zurück.
Umso wichtiger, dass die neue Bundesregierung die Aufarbeitung der SED-Diktatur stärken will. Dazu trägt auch die Wanderausstellung „...denen mitzuwirken versagt war“ bei, die von der Stiftung Aufarbeitung aus Anlass von 75 Jahren Grundgesetz erstellt wurde und noch bis zum 4. Juni in der Volkshochschule Freising zu sehen ist. In ihr werden die Biografien von 30 ostdeutschen Frauen und Männern vorgestellt, die Ende der 1940er und in den 1950er Jahren Widerstand gegen die kommunistische Diktatur leisteten und dafür ins Visier des Staatssicherheitsdienstes der Sowjetunion bzw. der DDR gerieten.
Am Abend des 9. April stellte die Berliner Historikerin Uta Gerlant in einem Vortrag im Mehrzweckraum ausgewählte Fälle genauer vor:
- Die Eheleute Charlotte und Erwin Köhler kritisierten als Christdemokraten die Scheinwahlen in der DDR. 1950 wurden sie verhaftet und im sowjetischen Geheimdienstgefängnis in der Potsdamer Lindenstraße schwer gefoltert. Beschuldigt der Spionage für Frankreich sowie konterrevolutionärer Agitation und Propaganda, verurteilte sie ein sowjetisches Militärtribunal in Potsdam zum Tode. Sie wurden in die Sowjetunion deportiert und im Butyrka-Gefängnis in Moskau erschossen.
- Helga Starke, die aus der brandenburgischen Provinz oft nach West-Berlin fuhr und von dort Waren und Nachrichten mitbrachte, kam 1951 in Haft. Der DDR-Staatssicherheitsdienst übergab sie der sowjetischen Geheimpolizei (obwohl die DDR bereits fast zwei Jahre existierte). Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte sie wegen »Spionage« und »antisowjetischer Agitation und Propaganda« zu 25 Jahren Zwangsarbeit. Acht Personen aus dem Freundeskreis wurden zum Tode verurteilt und in Moskau erschossen. Helga Starke wurde nach Workuta im hohen Norden der Sowjetunion deportiert, wo sie im Gleisbau arbeiten musste. Im Juni 1953, drei Monate nach Stalins Tod, wurde sie amnestiert.
- Karl Wilhelm Fricke, DDR-kritischer Journalist wurde 1955 aus West-Berlin in die DDR entführt und verbüßte vier Jahre Haft. Danach sammelte er – von Hamburg aus – bis zum Ende der DDR Belege für die undemokratische Politik und Gerichtsbarkeit in der DDR.
Abschließend spannte Uta Gerlant einen Bogen zum repressiven, staatsterroristischen Putin-Regime im heutigen Russland. Mit dem Publikum diskutierte sie die Notwendigkeit einer robusten Verteidigung der Ukraine vor dem anhaltenden russischen Krieg.
Am nächsten Morgen besuchte Frau Gerlant die 10b und die 10d und zeigte anhand von Auszügen ihrer eigenen Stasi-Akte beispielhaft auf, welche Konsequenzen es hatte, zur Jugendopposition der späten DDR zu gehören. Gerlant wurde seit 1982, als sie 16 war, von der Staatssicherheit observiert, weil sie die schulischen Fächer Wehrunterricht und Zivilverteidigung verweigerte, sich in der kirchlichen Friedensbewegung engagierte und an Sommerlagern der Aktion Sühnezeichen teilnahm. In einem dieser Lager in Thüringen lernte sie ihren späteren Mann aus West-Berlin kennen. Jahrelang konnten sie sich nur unter Beobachtung treffen, bevor sie 1987 in Potsdam heirateten und Uta zu ihm nach West-Berlin ziehen durfte. Die heute 16-jährigen Schülerinnen und Schüler der beiden Klassen suchten selbst nach Hinweisen in den Akten und entdeckten auch Widersprüche wie fehlerhafte Datierungen, sodass sie einen Einblick in quellenkritisches Arbeiten erhielten.
Alle Veranstaltungen wurden freundlicherweise durch Elternbeirat und Förderverein finanziell unterstützt.
Andreas Decker