„Wir haben nachgerechnet in der Familie: Aus der Verwandtschaftslinie meines Großvaters haben 18 Menschen den Holocaust überlebt, 100 Menschen sind ermordet worden – 100 Verwandte, die ich nie kennenlernen durfte.“ – In leisen Worten führte David Nossen den Neunt- und Zehntklässlern am Camerloher diese Rechnung vor und die Zahlen klingen so viel anders, wenn sie mit einem individuellen Menschen verbunden werden, den man kennenlernen und an dessen Familiengeschichte man direkt teilnehmen darf.

David Nossen ist Staatsanwalt und Ansprechpartner für antisemitische Delikte bei der Staatsanwaltschaft München I, er ist Jude und er ist am 12. Mai gemeinsam mit Oberstaatsanwalt Andreas Franck, der seit Oktober 2021 der Zentrale Antisemitismusbeauftragte der Bayerischen Justiz ist, ans Camerloher gekommen.

Anlass für den Besuch ist ein beunruhigender: Trotz der schrecklichsten Verbrechen gegen die Juden in der NS-Zeit und des gesellschaftlich breit angelegten Konsenses eines „Nie wieder!“ steigt die Zahl antisemitischer Straftaten über die letzten Jahre hinweg in Deutschland konstant an. Und auch die im Januar 2022 veröffentlichte Studie des Jüdischen Weltkongresses zur antisemitischen Haltung junger Menschen in Deutschland gibt Anlass zu Sorge: Jeder dritte junge Mensch im Alter zwischen 18 und 29 denke antisemitisch und das Wissen über den Holocaust nehme ab. Auch deshalb war es Zeit zu reden über die Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland ein paar Monate, nachdem das Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zu Ende gegangen war.

Den Auftakt zu dem Projekttag stellte für alle Neuntklässler ein Workshop dar, den die beiden Regionalbeauftragten für Demokratie und Toleranz, Silke Hatzinger und Thomas Fahrner, leiteten. In ganz Bayern gibt es 25 Regionalbeauftragte, die an den Staatlichen Schulberatungsstellen der jeweiligen Bezirke angesiedelt sind und als Ansprechpartner für verhaltensorientierte Extremismusprävention und anlassbezogene Intervention zur Verfügung stehen. Im Workshop ging es zentral um antisemitische Hetze im Netz: Kritisch und aufgeschlossen setzten sich die Schülerinnen und Schüler mit Memes und Stickern auseinander, die im Netz kursieren und die nicht nur extremistische, sondern teilweise auch strafbare Inhalte aufweisen. Das Gefährdungspotenzial dieser Contents liegt darin, dass sie Jugendliche ansprechen, da sie sich popkultureller Referenzen bedienen: So wird aus dem Slogan „Drop the bass“, der vor dem Hintergrund tanzender und Party machender junger Menschen zu lesen ist, ein „Drop the gas“ mit Hitler als DJ und einem mit einem Hakenkreuz versehenen Einhorn im Hintergrund. Den Jugendlichen im Workshop war schnell klar, dass das Veröffentlichen oder Weiterleiten eines solchen Stickers eine Straftat ist. Aber nicht immer ist die Sache so eindeutig, wie der Oberstaatsanwalt den Jugendlichen vor Augen führt. Häufig im Netz verbreitete, rechtsextremistische Zahlencodes wie „18“, „88“ oder „14“ deuten zwar auf eine extremistische Einstellung hin, sind aber allein aufgrund des geistigen Inhalts nicht strafbar. Es ist eben genau diese Abwägung zwischen dem Recht auf Meinungsfreiheit und dem Recht auf der Würde und Unversehrtheit des Einzelnen, welches die Gerichte sorgfältig abzuwägen haben.

Dies gilt auch für Parolen wie „Impfen macht frei“ oder dem im Zuge von Corona-Demonstrationen häufig gesehenen Aufnäher in Form eines Davidsterns mit der Inschrift „Ungeimpft“. Sehr früh hat die Bayerische Justiz auf solche Vergleiche zwischen Einschränkungen während der Corona-Pandemie und dem Holocaust reagiert und diese Inhalte als strafrechtlich relevant deklariert. Es ist die Verharmlosung bzw. die Relativierung des Holocaust, welche im Raum steht und strafrechtlich verfolgt wird. Damit, so führt Oberstaatsanwalt Franck in seinem Vortrag vor allen Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Jahrgangsstufe aus, wolle man ein „Zeichen setzen“ – zum einen, um Juden in Deutschland zu zeigen, dass die Justiz fest an ihrer Seite steht, zum anderen, um Straftätern zu zeigen, dass man sie streng verfolgen werde. Und daran schließt sich der Appell des Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Justiz an die Jugendlichen am Camerloher an: Antisemitische Bilder und Parolen sind niemals witzig – sie sind geeignet den öffentlichen Frieden zu stören – und damit eine Straftat. Das „Liken“ der Bilder ist geschmacklos, das Weiterleiten eine Straftat, die zu deutlichen Konsequenzen führe, wie dem Einziehen der digitalen Endgeräte, einer Hausdurchsuchung und einem Gerichtsverfahren. Richtig dagegen sei es, dem Sender Einhalt zu gebieten, eine angegriffene Person zu stärken, ein klares Stopp-Signal zu setzen und verfassungswidrige Zeichen und Symbole zu melden.

Gemeinsam mit Oberstaatsanwalt Franck war eigentlich Charlotte Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, ins Camerloher für diesen Projekttag eingeladen. Doch die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland musste aufgrund einer Corona-Infektion absagen, ließ aber der ganzen Schulgemeinde, welche sie bereits bei einem Besuch im Herbst 2018 kennengelernt hatte, ihre besten Grüße ausrichten. Für sie war sehr kurzfristig Staatsanwalt David Nossen eingesprungen, der sich bereit erklärt hatte, von seiner Familie zu erzählen. In bewegten und bewegenden Worten erzählte er den Schülerinnen und Schülern von seinem „Großonkel Siegfried“, von seinen „Großtanten Rosa und Bertha“ und vielen anderen Großcousinen und Großcousins, von denen die überwiegende Mehrheit im Holocaust in den unterschiedlichsten Lagern über ganz Europa verstreut ermordet wurden. Nur wenige Verwandte aus der großväterlichen Linie konnten überleben – sei es aufgrund der Befreiung der KZs oder weil ihnen die Flucht aus Nazi-Deutschland gelang. Und so kam es zu dem Zahlenverhältnis von 100 zu 18: 100 ermordete Vorfahren im Vergleich zu 18 Überlebenden. Wie viel eindringlicher sind diese Zahlen im Gegensatz zu dem Abstraktum von sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden! Es ist das erste Mal, dass David Nossen vor einem großen Publikum über seine jüdische Familie spricht – die Jugendlichen erkennen an seiner Stimme, am Innehalten, am Nachdenken und Sich-Sammeln zwischen den einzelnen Sätzen, dass das keinesfalls einfach ist. Es ist eine Atmosphäre des Mitfühlens und des Sich-Einlassens der jungen Leute auf die Familiengeschichte von David Nossen, die für absolute Stille und Konzentration in der Aula sorgt. Der Staatsanwalt ist viel zu jung, als dass er ein Holocaust-Überlebender sein könnte, und doch sind die Auswirkungen des Holocaust auf seine Familie und sein eigenes Ich schmerzhaft spürbar. Oder wie Herr Nossen sagt: „Wenn man Jude in Deutschland ist, kommt man um den Holocaust nicht herum.“

Man kommt auch deshalb nicht herum, weil Jüdinnen und Juden in Deutschland noch immer auch ganz persönlichen Anfeindungen ausgesetzt sind. Als Fünfjähriger wurde David Nossen von einem anderen Kind als „Judensau“ beschimpft, das Haus seiner Eltern wurde mit Hakenkreuzen beschmiert, im Deutschkurs in der Kollegstufe bemerkte eine Mitschülerin ihm gegenüber in vermeintlich witzigem Ton, dass auch ein Verwandter von ihr im KZ umgekommen sei - er wäre vom Wachturm gestürzt. Dieser alltägliche Antisemitismus geht nicht von Extremisten aus, sondern ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.  Auch deswegen habe er sich entschlossen, sich in seiner beruflichen Tätigkeit als Staatsanwalt diesem Thema zu widmen – von der juristischen Seite her, aber auch durch Veranstaltungen wie die am Camerloher, die den Rahmen schaffen, mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen und zu sensibilisieren. Und gemeinsam mit Oberstaatsanwalt Franck zeigte er sich begeistert vom Interesse, der aktiven Teilnahme und dem kritischen Geist der Schülerinnen und Schüler am Camerloher und verabschiedete sich mit den Worten: „Wenn ich in eure Gesichter schaue, dann ist mir um die Zukunft unseres Landes etwas weniger bange.“

Komplettiert wurde der Projekttag zur Antisemitismusprävention durch Begegnungstreffen von jüdischen Jugendlichen mit den Schülerinnen und Schülern am Camerloher im Rahmen der Initiative „Meet a Jew“ aufgesetzt vom Zentralrat der Juden. Im kleineren Rahmen innerhalb der Klassengemeinschaft der gesamten 9. und 10. Jahrgangsstufe konnten die Jugendlichen mit jüdischen Freiwilligen ins Gespräch gehen. Dabei sollte es bei Weitem nicht nur um den Holocaust oder um Antisemitismus gehen. Die Liste an Fragen in den einzelnen Klassen war lang und facettenreich: Die jungen Leute wollten wissen, wie Chanukka gefeiert wird, was typisch jüdisches Essen sei, wie oft die jungen jüdischen Leute in die Synagoge gehen und ob die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden Hebräisch sprechen. Es wurden aber nach einer gewissen Phase des Kennenlernens auch heiklere Aspekte angesprochen. Es wurde z.B. gefragt, wie sich die jungen jüdischen Menschen bei einem Besuch in einem Konzentrationslager fühlten und ob sie aufgrund ihres Jüdisch-Seins auch bereits beleidigt, herabgesetzt oder angegriffen worden seien. Offen, ehrlich und mit viel Empathie von und für beide Seiten gestalteten sich die Treffen mit den jungen Menschen von „Meet a Jew“.

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – dieses Jubiläumsjahr wurde und wird mit vielen Festakten begangen. Die Veranstaltungen nehmen – naturgemäß – neben der historisch-kulturellen Entwicklung auch immer die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland in den Blick. Das große Ziel dabei ist Aufklärung, Sensibilisierung, Anregen zum Nachdenken, Reflektieren und – im besten Falle – zum Einstehen für unsere Werte zum friedlichen, demokratischen und toleranten Zusammenleben. Dass dies im Jahre 2022 in Europa keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt der Krieg gegen die Ukraine. Umso wichtiger ist es, mit jungen Leuten darüber ins Gespräch zu kommen, wo sich auch in ihrem direkten Umfeld Menschenverachtung und Demokratiefeindlichkeit ergeben, und mit ihnen zu diskutieren, wie sie sich dagegen wehren können. Dies umso mehr, seitdem das Camerloher im letzten Schuljahr in das Netzwerk von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ aufgenommen wurde. Und gerade auch in diesem Rahmen richtet Yvo Fischer, der als Pate diesen Projekttag begleitet hat, einen eindringlichen Appell an die Jugendlichen: „Traut euch, angegriffene Personen zu stärken und mit eurem Stopp-Signal ein Zeichen zu setzen – egal, ob diese eine dunkle Hautfarbe haben, homosexuell, muslimisch oder jüdisch sind. Solidarität und Wehrhaftigkeit verhallen niemals ungehört!“

 

Silke Hatzinger, Regionalbeauftragte für Demokratie und Toleranz und Organisatorin des Projekttages