Zum zweiten Mal kam der in Litauen geborene und heute in Israel lebende Holocaust-Überlebende Abba Naor ans Camerloher, um den 9. Klassen und dem Ethik-Kurs der Q11 von seinem leidvollen Leben während des 2. Weltkriegs zu erzählen – als einer der letzten, die dies bis heute können.

Naor schilderte zunächst den für ihn und seine Familie völlig überraschenden Kriegsbeginn am 22. Juni 1941, als die deutsche Luftwaffe seine Heimatstadt Kaunas bombardierte. Die Familie floh zu Fuß und per Pferdewagen in die Hauptstadt Vilnius, kehrte aber nach einiger Zeit nach Kaunas zurück, um zu sehen, was aus ihrer Wohnung geworden war. Bald richteten die deutschen Besatzer für alle Juden der Stadt ein großes und ein kleines Ghetto ein, die Bewohner des letzteren wurden aber nach kurzer Zeit ins Fort gebracht, wo sie erschossen wurden – Männer, Frauen und Kinder. Die Täter waren „ganz normale Menschen“, die abends in ihre Familien zurückkehrten, nachdem sie, wie Naor sarkastisch anmerkte, „ihre Aufgabe nicht schlecht erfüllt“ hatten.

Sehr anschaulich beschrieb der Zeitzeuge das Über-Leben im großen Ghetto: Männer und Frauen ab 15 Jahren mussten zur Arbeit gehen, Musiker in einem Orchester für die SS aufspielen; unter Lebensgefahr versuchten die Ghettobewohner mit der nicht-jüdischen Bevölkerung Wertgegenstände gegen Essen zu tauschen, da die Essensrationen viel zu gering waren; später mussten alle Wertgegenstände an die Besatzer abgeliefert werden. Nur eines war nicht verboten: die Hoffnung. Nach Umwandlung des Ghettos in ein Konzentrationslager wurden an zwei Tagen alle Kinder nach Auschwitz deportiert, insgesamt ca. 1,5 Millionen jüdische Kinder im Holocaust ermordet – an dieser Stelle sagte Naor: „Diese Wahrheit muss erzählt werden!“

Im Juli 1944 begann für Familie Naor eine Odyssee in andere KZs. In Stutthof sah Abba Naor seine Mutter zum letzten Mal: Sie wurde nach Auschwitz gebracht und dort ermordet, kurz nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli. Naor ist sich sicher, dass seine Mutter überlebt hätte, wäre Hitler getötet worden. Er wurde wie die anderen Häftlinge in Stutthof vor allem von den kriminellen Häftlingen mit dem grünen Winkel schikaniert. Vor dem Kommandanten mussten sie ihre Mütze so auf ihr Bein schlagen, dass es einen Klang ergab. Wenig später wurden Abba und sein Vater getrennt, als Abba in ein Arbeitslager der NS-Bau-Organisation Todt in Utting am Ammersee kam, um dort Betonsäulen zu bauen. In der vergeblichen Hoffnung, seinen Vater wiederzusehen, ließ er sich nach Kaufering versetzen, wo die Hälfte der Häftlinge an den katastrophalen Umständen vernichtet wurde – „Vernichtung durch Arbeit“, wie es offiziell ist. Drei Dinge ließen ihn überleben: das Zusammenhalten mit Freunden, auf die Aufpasser aufzupassen und sich Essbares zu organisieren, und sei es Kartoffeln von den Schweinen. Vom Stammlager Dachau wurde Naor Ende April auf einen Todesmarsch geschickt, am 2. Mai folgte die Befreiung durch die US-Armee. Nach Kriegsende traf Naor seinen Vater schließlich in einem Münchner Lager für „displaced persons“ wieder. Seinen anfänglichen, nur zu verständlichen Hass auf die Deutschen legte Naor ab und kommt immer wieder gern nach Deutschland, um Schülern aus seinem Leben zu erzählen.

Abba Naor gelang es durch Eindrücklichkeit, aber auch durch Hunor, seine jugendlichen Zuhörer bis über das Ende der Doppelstunde in seinen Bann zu ziehen, danach wurden noch gute Fragen gestellt und beantwortet. Zudem regte Naor das Publikum zum Nachdenken an, etwa mit der Frage: Was hatten wir Häftlinge und die Schweine gemein? Antwort: Beide waren zum Tode verurteilt. ad